Seit 2003 finden die Begehungen in Chemnitz statt – ein Kunstfestival, das in jedem Jahr aufs Neue einen vergessenen oder verlassenen Raum „aufschließt“ und zugänglich macht. Inzwischen haben die Festivalmacher um Frank Weinhold und Lars Neuenfeld damit eine Institution in der Region geschaffen. Die Begehungen sind das größte Off-Event der Stadt Chemnitz, das einen unkonventionellen, subtilen Zugang zu Kunst schafft und gleichermaßen sozialer Treffpunkt ist.
2022 haben die Begehungen mit dem Projekt Desire Lines zusätzlich ein Residenzprogramm aufgelegt, in dessen Rahmen vier europäische Künstlerinnen und Künstler für einen Monat in Chemnitz gelebt und gearbeitet haben, um die geschaffenen Werke am Ende in einem wieder aufgeschlossenen Raum zu zeigen.
Die erste Auflage der Desire Lines in diesem Jahr stand unter dem Rahmenthema „Digitale Kunst“ und unter der Frage, wo sich der Mensch in einer zunehmend von digitalen Technologien durchdrungenen Welt verortet. In diesem Kontext lag eine Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich Hybrid Societies, der insbesondere die Interaktion zwischen Mensch und digitalen verkörperten Technologien (Embodied Digital Technologies, EDT) adressiert, geradezu auf der Hand.
Und so stand die 2022er Ausgabe des Residenzprogramms ganz im Zeichen neuer Erfahrungen. Nicht nur, weil der SFB die Vernetzung über die Grenzen der Universität(en) hinaus auf ein neues Level heben konnte. Zum ersten Mal wurde auch das Stadtlabor, ohnehin ein (H)ort des Experimentierens und Ausprobierens, einen Monat lang von einer Künstler:innengruppe als Werkstatt und Ort der Begegnung genutzt.
Flankiert wurde der Arbeitsaufenthalt der Artists in Residence durch Gespräche mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und Besuche in Labs des SFB. Unter anderem haben die Forschenden im SFB-Teilprojekt „Räumliche Orientierung in Telepräsenz“ die VR-Cave zugänglich gemacht. Doktorand Sven Winkler und sein Kollege Eckhart Wittstock waren es auch, die das Projekt Öffentlichkeitsarbeit des SFB und die Organisatoren der Desire Lines ursprünglich zusammengebracht haben. Im Lab der Professur Graphische Datenverarbeitung und Visualisierung konnten die vier zusammen mit Doktorand Carsten Rudolph (Teilprojekt „Stereotypisierung bionischer Körperrestauration“), das Tragen bionischer Prothesen in Augmented Reality ausprobieren.
Am letzten Oktoberwochenende wurden die Arbeiten dann im ehemaligen Cantaloop Club, vis-a-vis mit der Chemnitzer Oper, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Entstanden sind Werke, die die Besuchenden sofort in die Auseinandersetzung verwickeln.
SOFIIA GOLUBEVA (KIEV/BERLIN) kombiniert eine bewegende Videoprojektion mit einem Gemälde.
PARHAM GHALAMDAR (MANCHESTER) transformiert vier Ölgemälde durch eine Künstliche Intelligenz (KI) auf Bildschirme, auf denen sich immer wieder neue „Interpretationen“ ergeben.
VICTOR NEBBIOLO DI CASTRI (VENEDIG) verbindet den Rhythmus einer Lichtinstallation mithilfe von KI mit Audiosamples.
ANDREJ BOLESLAVSKÝ (PRAG) schließlich lässt die Gäste der Ausstellung in einem leeren Raum durch ein haptisches Labyrinth laufen, dessen „Wände“ man über einen vibrierenden Handsensor erspüren kann.
Das gesamte Wochenende über blieb die Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft präsent. Frank Weinhold und Prof. Bertolt Meyer, Sprecher des SFB, eröffneten die Ausstellung gemeinsam. Prof. Christian Pentzold, Leiter des Projekts Öffentlichkeitsarbeit, sprach in der Eröffnungskeynote über Visualisierungen und deren Einfluss auf vorausschauende Forschung. Ein Aspekt, den Christian Pentzold dabei deutlich gemacht hat, ist, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit Zukunftstechnologie dazu anregt, über diese Visionen nachzudenken und zu diskutieren, ob diese Zukunft wünschenswert ist. In einer ganzen Reihe von Vorträgen und Workshops, die über das Wochenende verteilt stattfanden, gab es reichlich Gelegenheit, sich zu diesen Aspekten auszutauschen. Das vollständige Programm ist weiterhin zugänglich und das Nacherleben der Ausstellung in einem digitalen Katalog ist von den Veranstaltern angekündigt.
Neben dem Austausch, den wir als Forschende des SFB mit den Künstler:innen und den Besuchenden der Ausstellung erleben durften, hat Desire Lines den Grundstein für weitere Projekte gelegt – insbesondere im Hinblick auf das Kulturhauptstadtjahr 2025 und die Vorbereitungsphase in den kommenden zwei Jahren. Wir erwarten spannende und aufschlussreiche Begegnungen.
Autor: Ingmar Rothe (Ö)
Fotos: Johannes Richter