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Forschen im virtuellen Raum

Empirische Forschung kann entweder im Labor oder in Alltagsumgebungen durchgeführt werden. Beides hat Vor- und Nachteile: Laborversuche bieten eine hohe experimentelle Kontrolle und erlauben den Einsatz von Messmethoden, die man nicht ohne Weiteres in die „Außenwelt“ mitnehmen kann. Allerdings geht das auf Kosten der Komplexität der präsentierten Reize und der Handlungsmöglichkeiten. Demgegenüber wird im Feldversuch die Kontrolle über Störvariablen teilweise abgegeben. Der sensorische Input ist dafür natürlicher und das Verhalten ist besser auf Alltagssituationen übertragbar. Virtual Reality (VR) wird bereits seit einiger Zeit als Verbindung zwischen Labor und Feld vorgeschlagen, aber direkte Vergleiche zwischen virtuellen und realen Szenarien sind selten, wenn man von bestimmten Bereichen wie dem Autofahren (im Fahrsimulator) absieht. Wir haben uns vorgenommen, zum Schließen dieser Lücke beizutragen.

Um Verhalten in der realen Welt und in VR systematisch miteinander vergleichen zu können, haben wir im Rahmen der Teilprojekte A04 und C01 des SFB „Hybrid Societies“ ein detailliertes virtuelles Modell des Instituts für Physik der Technischen Universität Chemnitz erstellt, in dem sich auch unsere realen Büro- und Laborräume befinden. Das Modell umfasst die öffentlichen Innenbereiche (Korridore) aller 5 Etagen des Gebäudes, alle Treppenhäuser, beide Innenhöfe sowie beispielhaft jeweils ein Labor, ein Büro und einen Seminarraum. Vorlage für unsere VR waren die originalen Grundrisse des Gebäudes, die maßstabsgetreues Modellieren ermöglicht haben, ohne jede einzelne Wand vorher ausmessen zu müssen, und anhand derer beispielsweise auch alle Türen und Fenster exakt im Modell platziert werden konnten.

Eine gestalterische Besonderheit des (realen) Instituts für Physik sind die individuellen Farbschemata der einzelnen Etagen: So werden beispielsweise die Wände und Türen im Erdgeschoss durch verschiedene Gelb-, Organe- und Rottöne dominiert, während in der ersten Etage diverse Blauvariationen den Raumeindruck bestimmen. Um die Farbwechsel im Modell realitätsnah abbilden zu können (der Übergang von subtraktiver Farbmischung in der realen Welt zu additiver Farbmischung auf einem Monitor ist schwierig), haben wir während der Arbeit an unserer VR hunderte Referenzfotos vom Gebäude aufgenommen. Einige der Aufnahmen kommen im fertigen Modell direkt als Textur vor, z.B. die Fotos der originalen Fluchtpläne, andere wurden nur verwendet, um zu bestimmen, an welcher Tür sich eine Klinke und an welcher sich ein Knauf befindet. Auch die diversen Lichtschalter, Steckdosen, Brandmelder, Feuerlöscher usw. konnten wir mithilfe von Fotos genau im Modell platzieren. Erstellt wurden alle virtuellen Objekte von uns selbst in der Software Blender.

Neben der hoch realistischen Gestaltung der visuellen Umgebung in VR erfordert die Vorgabe großer Realitätsnahe auch eine VR-Steuerung, die möglichst natürliches Verhalten erlaubt. Hierzu haben wir eine Hybrid-Steuerung entwickelt, die reale Körperdrehungen direkt in die virtuelle Welt überträgt, ohne dass dabei natürliche Kopf- und Blickbewegungen gestört werden, während die eigentliche Fortbewegung durch einen Joystick erfolgt. Erste Tests bestätigen, dass mit dieser Steuerung ein natürlicheres Bewegungsverhalten erreicht wird als mit konventionellen Steuerungsmethoden (Feder, Bendixen, & Einhäuser, CIVEMSA 2022).

Als erste praktische Anwendung unserer VR haben wir Augenbewegungen beim Durchqueren des realen Gebäudes und des Modells miteinander verglichen und unter anderem gezeigt, dass die Blickausrichtung von der realen und der virtuellen Umgebung in ähnlicher Weise beeinflusst wird (Drewes, Feder, & Einhäuser, Front. Neurosci., 2021). Mit diesen Erkenntnissen können wir nun Szenarien untersuchen, die sich in der realen Welt nicht oder nur mit sehr hohen Kosten simulieren ließen, wie z.B. den Umgang mit verschiedenen Wärmedetektionssystemen bei der Lokalisation von Brandquellen (in Kooperation mit der Professur Sportgerätetechnik). Teile unseres Modells haben wir dazu um Brandquellen und sichteinschränkende Verrauchung erweitert. Bei der Versuchsdurchführung bietet uns VR maximale experimentelle Kontrolle. Parameter wie die Position der Brandquelle und die Wärmeverteilung im Raum können von uns beliebig verändert werden. Vor allem aber können wir die Erkennung und Lokalisation der Brandquellen in einem realitätsnahen Gebäude untersuchen, das man in der Realität niemals – auch nicht unter stärksten Sicherheitsvorkehrungen – zu Übungszwecken kontrolliert in Brand setzen könnte.

VR-Untersuchungen im Labor können wir zudem mit klassischen psychophysiologischen Messverfahren wie der Elektroenzephalographie (EEG) verbinden – wenn auch unter einigen technischen Herausforderungen. Die Kombination aus EEG und VR ermöglicht uns die Darstellung von beliebigen Szenarien in einer abgeschirmten Messkabine und damit die Messung von Hirnreaktionen in (simulierten) komplexen Situationen, ohne dass die Datenqualität darunter leidet. Beispielsweise haben wir in einer EEG-Studie an der Professur Struktur und Funktion kognitiver Systeme (SFKS) gezielt die Verzögerung von auditiven Feedbacksignalen in VR manipuliert. Solche Verzögerungen begegnen uns im Alltag ständig, z.B. bei der Bedienung von Navigationssystemen. Unsere Studien erlauben Aussagen darüber, wie solche Systeme bei zu erwartenden Latenzen gestaltet werden müssen, um möglichst frustrationsfrei bedient werden zu können.

Empirisch mit VR-Umgebungen zu arbeiten, heißt nicht nur, virtuelle Umgebungen zu programmieren. Es heißt vor allem, das R in VR ernstzunehmen und zu fragen: Wie viel Realität steckt in VR? Je mehr wir darüber wissen, desto besser können wir und andere Forschungsgruppen das Potenzial VR-basierter Untersuchungen nutzen, auch um mehr über die Interaktion von Menschen und Technologien im öffentlichen Raum zu lernen.

Autor: Sascha Feder, M.Sc.